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Roman(t)isches.

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Diesen Herbst war ich kurz an der französischen Atlantikküste unterwegs und bin in einem Souvenir-Shop über eine Touristen-Postkarte gestolpert. Ganz im Stil des abgebildeten Beispiels – ein Strand voller Menschen. Es ist mir dann aufgefallen, dass dieses Motiv überall auftauchte und mich einigermassen irritierte. Als Schweizer würde man nie einen Strand voller Menschen toll finden. Je einsamer, je unberührter, je naturnaher, desto schöner. Immerhin kommt man aus einem Land im Dichtestress. (Dieses Wort ist seit der Ecopop-Abstimmung in totale Ungnade gefallen, da vermeintlich übertreibend und politisch instrumentalisierend. Aber diese an sich wertneutrale Neuschöpfung trifft den helvetischen Nerv dieses Jahrzehnts hervorragend. Das liegt auch daran, dass die Infrastruktur der Schweiz zwanzig Jahre hinterherhinkt aufgrund der langwierigen Prozesse bzw. niemand mit einem Bevölkerungswachstum in dieser Dimension gerechnet und geplant hat.) Dieser schweizerische Abwehr-Reflex ist also das eine, aber dahinter steckt ein jahrhundertalter Graben zwischen der germanischen und der romanischen Welt. Beschränken wir uns bei der Analyse dieses Grabens auf die Beziehung zur Natur. Grob vereinfacht gesagt ist der Romane eher ein Menschenfreund, dafür weniger ein Naturfreund. Beim Germanen (zu derem Kulturkreis wir Deutschschweizer selbstverständlich dazugehören) ist es genau umgekehrt. Dem Romanen ist die Natur am liebsten, wenn sie an einer guten Sauce auf dem Teller liegt. Wälder und Wiesen sind nichts anderes als Jagdgründe, in denen auf alles geschossen wird, was sich nur ein bisschen rührt. Der Germane hingegen hat sich von diesem grundkatholischen “macht-euch-die-Erde-Untertan”-Gehabe eher emanzipiert und hat in der Natur schon einen eigenen, nicht zweckgebundenen Wert erkannt. Übrigens stellt dies auch so etwas wie die Grundlage von Romantik dar, die sich in der Literatur und Malerei im germanischen Kulturkreis besonders gezeigt hat. In Italien zieht es auch heute noch die Leute dorthin, wo die anderen Leute sind. Je mehr menschlich verursachter Trubel (und Lärm), desto besser. Den Germanen zieht es einsam in die Berge, um möglichst viel Raum für sich selbst zu beanspruchen. Oder positiv formuliert:  der Natur Wirkung einzuräumen. In der Schweiz sieht man die Unterschiedlichkeit wie in einem Vorzeige-Modell an den Siedlungsformen. Zum Beispiel im Kanton Graubünden auf allerkleinstem Raum:  Während die Romanen (hier trifft sogar diese Bezeichnung im engeren Sinne zu) eher die Täler besiedelten, lieber als Händler wie als Bauern, sind ihre Siedlungen kompakt als Dörfer mit engen Gassen gestaltet, während die deutschsprachigen Walsersiedlungen lockere Streusiedlungen sind. Auch die altrömischen Städte waren wesentlich konzentrierter als die germanischen Haufensiedlungen. Logisch auch, dass sich das ökologische Bewusstsein in den heutigen mediterranen Ländern fundamental von den mittel- und nordeuropäischen Ländern unterscheidet. Eine kleine Beobachtung im Tessin sei hierzu noch erwähnt: auf einer geologischen Wanderung am Monte San Giorgio ist mir aufgefallen, dass die alten Bänke entlang des Wegs genau verkehrt standen. Für mich als Germanen zumindest. Sie zeigten nicht nach aussen, in die Ferne, mit Aussicht über erhabene Natur, nein, sie zeigten auf die Strassenseite. Dort, wo vor 100 Jahren die Arbeiter/innen Schieferplatten mit Ochsenkarren ins Tal gebracht haben. Für die Romanen offensichtlich die lohnendere Aussicht.

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